Moderner Wink gen Himmel
Die Knarvik Kirche ist eine moderne Interpretation der tausend Jahre alten Stabkirchen in Norwegen. Der preisgekrönte Klerikalbau von Reiulf Ramstad Arkitekter ist zur touristischen Attraktion geworden – und zu einem Ort, der allen offensteht.
Wie aus den umliegenden Felsen gehauen ragen die scharfkantigen Spitzen aus der Landschaft empor. Die vergraute Kieferfassade Ton in Ton mit dem Gestein ringsum. In seiner Form hebt sich der Bau aber ganz deutlich von der Umgebung ab. Erst wenn man das dezente Kreuz an seiner obersten Spitze entdeckt, wird einem klar, dass es sich bei dem futuristischen Gebilde um eine Kirche handeln muss. Es ist die vielfach preisgekrönte Knarvik Kyrkje, die auf einem Hügel oberhalb des gleichnamigen Ortes an der Südwestküste von Norwegen liegt.
In ihrer Geometrie, ihren Materialien und ihrem Design ist die Kirche einzigartig und schlicht zugleich.
Reiulf Ramstad, Architekt und Gründungspartner von Reiulf Ramstad Arkitekter
Sie wurde 2014 nach dem Entwurf des in Oslo ansässigen Büros Reiulf Ramstad Arkitekter erbaut. Damit bekam nicht nur die örtliche Pfarre neue Räumlichkeiten, die Kirche bescherte dem Ort zudem ein kulturelles Zentrum, das auch für weltliche Veranstaltungen genutzt wird. Abgesehen davon ist das Bauwerk eine imposante architektonische Landmarke, die viele Menschen anzieht und mittlerweile in keinem Reiseführer mehr fehlt. Der außergewöhliche Klerikalbau schafft es nämlich, die baukulturelle Geschichte des Landes mit der Gegenwart zu verbinden.
Älteste Holzbauten der Welt
Kirchen, die aus Holz gebaut sind, sind in Norwegen nämlich keine Neuheit, sondern ein wichtiger Teil des kulturellen Erbes. Die sogenannten Stabkirchen zählen zu den ältesten erhaltenen Holzgebäuden der Welt. Die älteste von allen ist die Stabkirche Urnes am Ostufer des Lusterfjords, die Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist. Sie geht auf das Jahr 1100 zurück und ist somit an die tausend Jahre alt.
Diese mittelalterlichen Holzkirchen sind der beste Beweis für die Langlebigkeit des nachwachsenden Baumaterials Holz. Zusammen mit der Fähigkeit, CO2 langfristig zu binden, sind die neuen Werkstoffe des konstruktiven Holzbaus ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Klimaneutralität. Durch ihre hervorragenden bautechnischen Eigenschaften werden sie heute auch zum Bau von Hochhäusern, U-Bahnstationen und Fußballstadien eingesetzt.
Moderne Interpretation der Stabkirchen
Die Stabkirchen verfügen über ein Tragwerk aus senkrecht stehenden Masten, auf denen die Dachkonstruktion ruht. Die vertikale Ausrichtung ist neben dem Baustoff Holz eines ihrer Hauptmerkmale. Dasselbe gilt für die futuristisch anmutende Kirche im kleinen, windgepeitschten Städtchen Knarvik, die eine moderne Antwort auf die tausendjährigen Kirchenbauten ist. „Inspiration für die Kirche lieferten hauptsächlich die landschaftlichen Gegebenheiten vor Ort. Aber auch die norwegische Tradition der mittelalterlichen Stabkirchen. In ihrer Geometrie, ihren Materialien und ihrem Design ist die Kirche einzigartig und schlicht zugleich“, wie Architekt Reiulf Ramstad kurz nach der Fertigstellung der Kirche gegenüber dem schwedischen Holzbaumagazin „Trä!“ erklärte.
Wir haben uns für Holz entschieden, weil es in Norwegen so ein traditionelles Baumaterial ist. Aber es war auch wichtig für das organische, lebendige Gefühl, das es vermittelt.
Reiulf Ramstad, Architekt und Gründungspartner von Reiulf Ramstad Arkitekter
Bereits in der frühen Entwurfsphase stand für das Architektenteam fest, dass die Kirche aus Holz gebaut werden soll. „Wir haben uns für Holz entschieden, in erster Linie weil es in Norwegen so ein traditionelles Baumaterial ist. Hier kennen wir unser Holz“, so Ramstad. „Aber es war auch wichtig für das organische, lebendige Gefühl, das es vermittelt, und seine rein ästhetischen Eigenschaften.“
Ein Haus für alle
Anders als bei den Stabkirchen besteht die Konstruktion nicht zur Gänze aus Holz. Ein Stahlrahmen bildet das Tragwerk, das innen und außen mit Kiefernholz verkleidet ist. Im Gegensatz zum rauen, verwitterten Look der Außenfassade gibt sich die Kirche im Inneren sehr skandinavisch. Man könnte zur Beschreibung auch das vielzitierte „hygge“ heranziehen, das sowohl das gemütliche nordische Ambiente als auch das gemeinschaftliche Miteinander bezeichnet.
Und so wie einige Kirchenhäuser, die in den letzten Jahren im Hohen Norden gebaut wurden, so richtet sich auch die Knarvik Kirche nicht an ein strikt christliches Publikum. Vielmehr soll sie ein Raum sein, der der gesamten Gemeinschaft zur Verfügung steht. Mittlerweile ist es zu einem Trend geworden, dass Kirchen zum Austragungsort für Rock- und Popkonzerte werden. Durch diese Öffnung für alle haben Kirchen einen Weg gefunden, sich in einer säkularisierten Gesellschaft zu behaupten.
Ein Ort, der Identität stiftet
Durch das Wegbrechen von Gemeindemitgliedern in den letzten Jahrzehnten sind viele Kirchen – auch außerhalb von Skandinavien – zu Orten geworden, die in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohen. Neue inhaltliche und architektonische Konzepte bieten ein Rezept dagegen, so auch in Knarvik.
Die neue Kirche ist nicht nur ein Ort für religiöse Zusammenkünfte, sondern auch ein kulturelles Zentrum.
Reiulf Ramstad, Architekt und Gründungspartner von Reiulf Ramstad Arkitekter
„Die Menschen in Knarvik haben seit langem nach einer Möglichkeit gesucht, die Gemeinschaft zusammenzubringen. Die neue Kirche erfüllt diese Funktion und ist nicht nur ein Ort für religiöse Zusammenkünfte, sondern auch ein kulturelles Zentrum für Kunst und ein Ort, an dem junge Menschen singen und Instrumente lernen können“, beschreibt es Ramstad.
Dank des Konzeptes von Reiulf Ramstad Arkitekter ist die Kirche in Knarvik nicht zuletzt auch ein Ort, der Identität stiftet. „Die Architektur der Kirche, die räumlichen Lösungen und die Auswahl der Materialien bringen Religion, Kultur und lokale Geschichte auf einen gemeinsamen Nenner.“
Text: Gertraud Gerst
Fotos: Reiulf Ramstad Arkitekter, Hundven-Clements Photography